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Die Seniorenkantorei


Was ist eine Seniorenkantorei? Da stelle ma uns janz dumm und antworten:

Eine Seniorenkantorei ist zuallererst eine Seniorinnenkantorei mit Restbeständen an Senioren. Ich lasse die Blicke schweifen und sehe nämlich durchweg ansehnliche, sangesbegabte ältere Damen mit enormem Umfang (nein, nein, gilt nicht: mit enormem Stimmumfang!) und - wie gesagt - Restbestände, also eine Handvoll (mit Verlaub) krächzender, knarzender „oller Knacker“.

In einem Couplet von Otto Reutter heißt es: „Die Statistik zeigt's dem Kenner, 's gibt mehr Frauen als wie Männer...“ Das fand ich in meinem jahrzehntelangen Chorleben bestätigt. Und die Ausdünnung bei den „alten Knaben“ ist ja augenfällig und wird zudem leider noch durch natürlichen Schwund verstärkt. Also, an Männerstimmen und Tenören (diesen feinen Unterschied pflegen die lieben Bässe gern zu betonen) fehlt's im Revier, doch die Kantorei nimmt tenorale Altistinnen dafür und wickelt die Verbliebenen in Watte. Denn eine Männerquote oder ein ehrenamtlich tätiger Männerbeauftragter würde hier kaum Abhilfe schaffen können.

Im Übrigen wollen wir nicht klagen. Denn: Alt geworden, sind wir doch jung geblieben. Dem Krabbelalter längst entwachsen, besuchen wir jedoch immer noch die Wittsche KITA. Doch in Kürze werden wir eingeschult! Oh weh, dann heißt es aber brummen, bimsen, büffeln und malochen.

Ja, meine Lieben, als Chormitglied bleibt man ohnehin zeitlebens Schüler, wie eben unser Chef zum Lehrer ausersehen wurde und als Meister wirken kann. Der Schüler kann es über die Stationen Lehrling und Geselle zum Facharbeiter schaffen. Doch ein Lehrmeister bleib es sein Leben lang - mit einem ähnlichen Berufsrisiko wie Sisyphos. Dennoch liegt in unserem Fall offenbar ein gesundes Erbgut vor. In den zurückliegenden Jahren traten keinerlei Anzeichen auf, wie sie mitunter in Handel und Gewerbe zu beobachten sind, wenn ein Unternehmen in ein, zwei Jahren nach seiner Gründung lautlos von der Bildfläche verschwindet. Das Engagement des Gründervaters hat sich also gelohnt.

Ein alter DDR-Witz ging so: Kennen Sie den Unterschied zwischen DDR- und bundesdeutschem Rentner? Nun, der Ossi steht morgens um sechs auf, nimmt seine Tabletten ein und geht zur Arbeit. Der Wessi fährt gegen neun mit dem Auto zum Flughafen und düst nach Mallorca. Im Jahre 22 n.d.W. hat sich da für die älteren Chorleute glücklicherweise vieles angeglichen. Ob in Zehlendorf, Lichtenberg, Pankow oder Charlottenburg - man nimmt hier wie dort seine Tabletten ein, greift nötigenfalls zur Gehhilfe, kämpft sich voran und taumelt winters auf vereisten Flächen zur Chorprobe.

Dort wartet schon der Chef. Wer mag heute von Altersgebrechen heimgesucht oder sonst wie verhindert sein. Ein riesiges Repertoire ist abzuarbeiten. Rentner leiden bekanntlich unter akutem Zeitmangel. Außerdem ist ein gewisses retardierendes Element nicht zu überhören, das auf Entschleunigung hinausläuft; also andante neigt zum lento. Dessen ungeachtet, werden in der Oeku-Sen.-Kant. die Stücke aber rationell durchgenommen: nicht nacheinander, sondern immer eins vor dem andern. Die mit hohem Prioritätsrang kommen noch eher dran. Unrationell wird's erst, wenn z. B. ein „ausgefranster“ Einsatz schon mal eine halbe Stunde ausgebessert werden muss.

Dabei ist die Leidensfähigkeit des Meisters zu bewundern. Seine Betroffenheit schwankt auf der musikalischen Richter-Skala zwischen spärlicher Zufriedenheit und bitterer Enttäuschung. Bisweilen bleibt nur die Flucht in sarkastische Aufwallung. Unsaubere Intonation kann ein mittleres Beben auslösen. Letztlich siegt aber die altersweise Sicht; mit schauspielerischen Mitteln wird den Betroffenen mimisch ein akustischer Spiegel vorgehalten. Die eindrucksvolle stimmliche Imitation führt zu allgemeiner Heiterkeit und entspanntem Weitermachen.

Gehen wir mal an den Beginn der Probenarbeit zurück. Zuallererst müssen Atem und Stimme herangeholt werden. Dabei erfährt auch der Bauch Beachtung, der weit nach vorne geatmet werden soll, was bei manchem daran scheitert, dass diese Stelle schon von vornherein besetzt ist. Besonders ärgerlich, wenn gerade ein Eisbein drinsteckt. Sämtliche Seiten- und Rückenteile namentlich im Hüft- und Lendenbereich sollen dann kapazitätsmäßig auf Weite eingestellt werden. Eine einzige derartige Prozedur erspart manch einen Arztbesuch! Wie wäre es, wenn die Krankenkassen im Gegenzug dies mit Sponsorengeldern honorieren würden?

Beim Einsingen gefällt mir besonders das Intervall-Training. Das bringt immer von neuem überraschende Erkenntnisse. Wie werden jene seltenen Vögel heute klingen, sagen wir ... ... hmhm ... die Sexte. Dann vielleicht eine aparte Dreier-Kombination, einfach so imaginär aus der Luft gegriffen. Mein Lieblings-intervall ist die leider spärlich zu genießende Septime: im Hintergrund winkt hilfreich die Oktave.

Wie sieht's denn aber mit der Abwärtsbewegung aus? Die Quarte nach unten scheint sonderbarerweise ein anderes Intervall zu sein als die aufwärts.

Der Mensch strebt eben nach Höherem. Späterhin könnte man sich ja an einer NONE oder DEZIME versuchen. Doch Vorsicht, Senioren sind besonders gefährdet wegen Rutschgefahr und möglichen Zerrungen.

Übrigens: Die Hauptfeinde des sogenannten, real existierenden Sozialismus waren bekanntlich die vier Jahreszeiten. Die hartnäckigsten Störenfriede für eine singende Gemeinschaft heißen in saecula saeculorum wie folgt: Einsätze, Pausen, Schlussakkorde, Familienfeiern, Reiseabsichten und sonstige Unpässlichkeiten, nicht zu vergessen die Konsonanten, sowie diffuse Notenmappen, die dazu neigen, ihren Inhalt unversehens auf den Boden zu schicken. Wobei in Sachen Konsonanten zu unterscheiden ist, ob sie als Anlaut, Schlusslaut oder gar in dreifacher Reihung auftreten. Das ist jedoch ein abendfüllendes Thema für sich.

Bei dem einen oder anderen könnte auch ein Notenstau auftreten. Da drängeln sich dann irgendwelche Oster-Noten beim Weihnachtssingen vor. Sie sehnen sich so sehr nach baldiger Vereinigung mit den Verwandten im Archiv.

Diesbezüglich sind Problemlösungen schwierig. Auf Anhieb fällt mir nur eine anonyme Notenklappe ein oder ein vollkommener Ablass, eine Generalamnestie alle zwei Jahre.

Eine alte Sangesweisheit lautet: Wer lange singt, lebt lange - und umgekehrt! Insofern sind die Oeku-Seniorinnen bevorzugt reich Beschenkte und genießen das Vorrecht, von ihren Früchten etwas weiterzugeben. Auch und vor allem dank des unermüdlichen Einsatzes unseres Chefs, der immer ans Limit geht und sich niemals schont. Ihm gilt es nachzueifern. Atemberaubend, wie er nach einer massiven gesundheitlichen Attacke beinahe nahtlos wieder auf der Matte stand. Da darf die Belegschaft nicht allzu weit hinterherhinken.

Also: Ein großes Dankeschön an unseren Chef, und die Lehrlinge hoffen, dass es unter seiner Ägide auch im neuen Jahr in bewährter Weise weitergeht und für uns noch ein Platz in einer Herberge bereitsteht.

Herbert Klemt
vorgetragen zur Adventsfeier am 22. Dezember 2011